Aspergers langer Schatten

Essay zum Geleit  Warum es kein Asperger-Syndrom (mehr) gibt – und wir trotzdem »Asperger-Stammtisch« heißen

Zu Beginn unseres 21. Jahrhunderts wurde »Asperger« zu einem emblematischen Schlagwort, einer kulturellen Chiffre und begehrten Identitätsmarke für Menschen, die in einer Zeit zunehmender Flexibilisierung sozialer Beziehungen irgendwie aus dem Raster fallen. Alle möglichen »Nerds«, Einzelgänger und Außenseiter wurden plötzlich zu »Aspie«-Verdachtsfällen. Was hat es damit auf sich? Ist »Asperger« eine Modediagnose? Wer ist autistisch und wer nicht? Darüber ist an unserem Asperger-Stammtisch viel diskutiert worden.


»Die Gesellschaft trägt zur Entwicklung von Diagnosen bei, die andere Menschen definieren. Die Bezeichnung für eine Störung mag von bestimmten Personen und Berufsgruppen gewählt werden, aber diese Diagnosen werden uns nicht einfach aufgezwungen. Wir akzeptieren sie, tragen sie weiter und nehmen an ihrer Entstehung teil. Doch, wenn wir die Bezeichnung ›Autismus‹ verwenden, sollten wir genau wissen, woher dieser Terminus kommt und was er bedeutet.« Edith Sheffer (2018, S. 286)

[ Hans Asperger ]
Hans Asperger (um 1940)

Der Wiener Kinderarzt Hans Asperger (1906–1980) wäre zweifellos der Vergessenheit anheimgefallen, hätte nicht die britische Psychiaterin Lorna Wing (1928–2014) ein Jahr nach seinem Tod ihm zu Ehren die Bezeichnung Asperger’s syndrome für eine schwächere Form von Autismus eingeführt. Als Mutter einer autistischen Tochter hat Lorna Wing sich der Erforschung des Autismus gewidmet und dabei festgestellt, dass neben den von Leo Kanner (1894–1981) beschriebenen klassischen Fällen mit erheblicher Behinderung auch solche mit weniger auffälligen und einschränkenden Symptomatiken existieren. Soziale Anpassungsschwierigkeiten dieser Art hat Asperger in seiner 1944 erschienenen Habilitationsschrift »Die ›Autistischen Psychopathen‹ im Kindesalter« dargestellt.

Diese blieb außerhalb sehr enger deutschsprachiger Fachkreise lange Zeit unbekannt, erst Lorna Wing und Uta Frith verhalfen ihr zu internationaler Beachtung. Was Wing als »Asperger-Syndrom« beschrieb (Wing 1981), war allerdings vor allem das Resultat ihrer eigenen Forschung. Mit Asperger hatte sie bei allem Respekt auch erhebliche Meinungsverschiedenheiten: Sein zwischen pathologischen und bloß charakterologischen Kategorien oszillierendes Konzept von »Autismus« blieb vage. Von Kanner grenzte er sich strikt ab. Wing hingegen sprach von einem »autistischen Spektrum«, wollte dieses aber klar eingegrenzt wissen. In ihren letzten Lebensjahren hat sie es bereut, sich mit Asperger eingelassen und damit eine »Büchse der Pandora« geöffnet zu haben. Dass »Autismus« plötzlich von einem Stigma schwerstbehinderter Menschen zu einem attraktiven und begehrten, identitätspolitisch aufgeladenen Label für gefühltes »Anderssein« wurde, hängt historisch unlöslich mit Asperger zusammen: Er hat diesem Begriff eine Ausstrahlung verliehen, die einen gewaltigen Nachfrageschub in Bezug auf diese Diagnose auslöste. Wohl keine andere psychiatrische Diagnose wird heutzutage so häufig von Erwachsenen als Wunschdiagnose angestrebt wie »Autismus«. Das hat etwas mit Asperger zu tun: Er war es, der den Begriff »Autismus« mit Attributen konnotiert hat, die starke Identifikationseffekte auslösen. Seine Texte wurden als frühes Plädoyer für »Neurodiversität« gelesen.

Die Geburt der »Neurodiversität« im Dritten Reich

Aspergers Beschäftigung mit dem Thema fiel in die Zeit des Dritten Reichs. In den letzten Jahren wurden Fakten bekannt, die seine Tätigkeit als Arzt im NS-Staat in einem wesentlich ungünstigeren Lichte erscheinen lassen, als man zuvor annahm. Er war nicht der heimliche Widerstandskämpfer, zu dem er sich selbst nach 1945 stilisiert hat. Seine Stelle verdankte er dem Mediziner und NSDAP-Mitglied Franz Hamburger, der bereits vor der Annexion Österreichs als Direktor der Wiener Universitäts-Kinderklinik die (zumeist jüdischen) progressiven Mitarbeiter entlassen und durch politisch rechtsgerichtete ersetzt hatte: Asperger war einer der Nutznießer. Wenngleich Asperger als katholischer Christ sicher nicht das rassebiologische Menschenbild der Nationalsozialisten teilte, hat er sich doch in einer Mischung aus Karriereopportunismus und partieller Übereinstimmung mit gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Nazis dem Regime angepasst und dabei im Zusammenhang mit dem mörderischen Programm der »Euthanasie« auch schwere Schuld auf sich geladen. Abseits moralischer Bedenken stellt sich die Frage, ob Aspergers in weiten Teilen NS-konforme Einstellung auch seine wissenschaftliche Leistung tangiert. Die Historikerin Edith Sheffer findet: Ja. In ihrem 2018 erschienenen Buch »Aspergers Kinder: Die Geburt des Autismus im ›Dritten Reich‹« interpretiert sie Aspergers Interesse an »Autismus« als Resultat eines »Diagnoseregimes«, das auf Typisierung und Katalogisierung von Menschen zielte.

Mit »Autismus« hatte noch vor dem Ersten Weltkrieg Eugen Bleuler einen psychotischen Rückzug ins Innenleben als Symptom von Schizophrenie bezeichnet. Auch Asperger verstand unter »Autismus« zunächst einmal ganz allgemein eine in sich gekehrte Abkapselung und bemüht sich dann um Spezifizierung einer eigenständigen, im Unterschied zur Psychose nicht progredient verlaufenden, sondern der Persönlichkeit konstant anhaftenden »autistischen Psychopathie«, charakterisiert durch das Fehlen der »mitschwingenden«, intuitiven, instinktiven Beziehung zur sozialen Umgebung, an deren Stelle ein rein verstandesmäßiges, abstrahierendes Erfassen tritt. Asperger greift hier den von dem NS-nahen Psychologen und Philosophen Ludwig Klages behaupteten Gegensatz von abstrahierendem »Geist« und fühlender »Seele« auf. Dabei betont er, dass dieses Defizit den »Autistischen« zugleich einen intellektuellen Vorsprung verschaffen könne:

»Der Abstand vom Einzelding ist die Voraussetzung zur Abstraktion, zur Bewußtwerdung, zur Begriffsbildung […] In den günstig gelagerten Fällen bietet diese Fähigkeit, welche natürlich auch weiterhin bestehen bleibt, die Voraussetzung einer Berufseinstellung, bedingt die besonderen Leistungen solcher Menschen, welche anderen versagt sind. Die gute Abstraktionsfähigkeit ist ja eine Voraussetzung zu begrifflicher Leistung. Tatsächlich finden sich unter bedeutenden Wissenschaftlern zahlreiche autistische Charaktere.« (Asperger 1944, S. 117f.)

Asperger selbst wurde als introvertiert, vergeistigt und sprachbegabt beschrieben. Er bewunderte den Gemeinschaftsgeist der Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg und dann des Dritten Reichs, während er selbst wohl einzelgängerisch veranlagt war. Es liegt nahe, dass seine Idee von »Autismus« in hohem Maße auf einer Projektion beruhte: Ihm war offensichtlich vor allem daran gelegen, den Wert intellektueller und introvertierter Menschen, zu denen er selbst gehörte, für die Gemeinschaft zu rechtfertigen.

Aspergers Konzept von »Autismus« etabliert ein Zweiklassensystem.

In diesem Sinne betrachtet Asperger »Autismus« als charakterliche Ressource für originelles und kreatives Denken, geistige Produktivität. Er wollte zeigen, dass den »Autistischen«, wenn sie »intellektuell intakt« sind, ein besonderes positives Potenzial zukommt: Auch wenn sie in ihrem Verhalten schwierig und unzugänglich, eigenbrötlerisch und rätselhaft erscheinen, können sie doch zu einer »hervorragenden sozialen Einordnung« gelangen, indem sie »in ausgesprochen intellektuellen, hochspezialisierten Berufen« Bedeutendes leisten (Asperger 1944, S. 134). Andererseits weist Asperger allerdings darauf hin, dass »nicht in allen, nicht einmal in den meisten Fällen das Positive, Zukunftsweisende der autistischen Wesenszüge« überwiegt:

»Wir haben schon darüber gesprochen, daß es autistische Charaktere von sehr unterschiedlichem Persönlichkeitsniveau gibt: von einer an das Genie grenzenden Originalität über realitätsferne, eingesponnene, wenig leistungsfähige Sonderlinge bis zu schwerst kontaktgestörten, automatenhaften Schwachsinnigen […] mit stereotypen, automatenhaften Gewohnheiten, mit als Leistung unbrauchbaren, schrullenhaften Interessen – zu den ›Kalendermenschen‹, welche für jeden Tag des Jahres die Namenstage kennen, zu Kindern, welche, lange bevor sie in die (Hilfs-) Schule kommen, alle Straßenbahnlinien von Wien auswendig wissen, mit Ausgangs- und Zielstation, oder zu Kindern mit anderen automatisierten Gedächtnisleistungen.« (Asperger 1944, S. 118)

Aspergers Konzept von »Autismus« etabliert ein Zweiklassensystem: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die mit den Eigenheiten ihres Verhaltens von sozialen Konventionen abweichen, aber zugleich in spezifischer Weise befähigt sind, für die Gesellschaft – damals: die NS-»Volksgemeinschaft« – Brauchbares und Wertvolles zu leisten. Ihnen schreibt er im Sinne dessen, was heute »Neurodiversität« genannt wird, eine distinkte »soziale Wertigkeit« zu und plädiert dafür, ihnen pädagogische Förderung zukommen zu lassen. Auf der anderen Seite steht der minderbemittelte Ausschuss, für den er nur Worte herablassenden Bedauerns findet. Die »automatenhaften Schwachsinnigen« interessierten ihn nicht, zur Verbesserung ihrer Lebenslage fällt ihm nichts ein. Ihn interessierten die Begabten. Damit hat Asperger – im Dritten Reich, dessen Vernichtungsmaschinerie noch auf der Zielgeraden in den Untergang auf Hochtouren lief – in fataler Weise den Fokus des Autismus-Narrativs unserer Zeit gesetzt.

In seiner Habilitationsschrift hat Asperger eine ausführlichere, vertiefende Studie über Autismus in Aussicht gestellt. Eine solche kam aber nie zustande. Nach 1945 hat er zahlreiche Arbeiten über diverse Fragen der Kinderheilkunde veröffentlicht, nur sehr wenige davon nehmen auf »Autismus« Bezug. Das Thema hat ihn offensichtlich nicht mehr besonders interessiert. Als Professor der Universität Wien hätte er die Möglichkeit gehabt, weiter darüber zu forschen, er hat es aber nicht getan. Als nach 1960 in der Psychiatrie das Interesse an Autismus wuchs und einzelne Fachkundige neben den richtungsweisenden Arbeiten von Kanner auch Aspergers Veröffentlichung in die Diskussion einbezogen, legte Asperger Wert darauf, sich von Kanner zu distanzieren, indem er sein Konzept von »Autismus« von der »krankhaften« Form, um die es bei Kanner ging, strikt abgrenzte. Davon handelt ein Artikel von 1968, in dem es heißt:

»Ist der Kannersche frühkindliche Autismus ein psychosenaher oder gar psychotischer Zustand (wenn auch nicht identisch mit einer Kleinkindschizophrenie), so sind die Aspergerschen ›Kernfälle‹ höchst intelligente Kinder, mit ungewöhnlicher Spontaneität und Originalität des Denkens, mit besonderen Fähigkeiten der Logik und Abstraktion […]« (Asperger 1968, S. 141)

Asperger räumt zwar ein, dass manche von ihnen allzu abseitige und unbrauchbare »Spezialinteressen« entwickeln, gelangt aber doch zu dem Gesamturteil:

»So konfliktreich ihr Kinder-, besonders ihr Schuldasein auch immer ist, so gehen sie doch mit starker Spontaneität und Originalität ›ihren‹ Weg, unbeirrt und traumhaft sicher, finden öfters in abseitige, oft in hochspezialisierte, wissenschaftliche Berufe, manchmal mit ans Geniale grenzenden Fähigkeiten; ja es scheint uns, als wäre für gewisse wissenschaftliche oder künstlerische Höchstleistungen ein Schuß ›Autismus‹ geradezu notwendig: eine gewisse Abwendung vom Konkreten, Simpel-Praktischen, eine Einengung auf ein bestimmtes, mit starker Dynamik und hoher Originalität bearbeitetes Spezialgebiet, manchmal bis zur Verschrobenheit, eine Einengung oder Abartigkeit auch der Gemütsbeziehungen zu anderen Menschen.« (Asperger 1968, S. 141f.)

[ Leo Kanner ]
Leo Kanner (um 1955)

Hier wird deutlich, dass Asperger mit einem Begriff von »Autismus« operiert, der im Grunde nichts weiter bedeutet als Introversion: »eine gewisse Abwendung vom Konkreten, Simpel-Praktischen« ist lediglich ein Persönlichkeitszug, der mit der von Kanner entdeckten tiefgreifenden Entwicklungsstörung nichts zu tun hat. »Autistisches« Verhalten sieht Asperger einfach als »Möglichkeit menschlichen Seins« (Asperger 1968, S. 143), die auch »im Zustand schöpferischer, spontaner Geistestätigkeit« (S. 144) zum Tragen kommt. Als »krankhafte Grade von Autismus«, die unter ungünstigen »pathologischen Umständen« auftreten können, bezeichnet er hingegen die Schizophrenie (die mit autistischen Entwicklungsstörungen an sich nichts zu tun hat) und den »schwerst abnorme[n] Zustand des frühkindlichen Autismus« (ebd.). In Abgrenzung davon hat Asperger den rein charakterlichen »Autismus« in seinem Sinne nach 1945 offenbar nicht mehr als etwas angesehen, was einer besonderen Diagnose und weiterer Erforschung bedarf. Er nahm wohl an, dass Kinder mit den von ihm beschriebenen Merkmalen pädagogische Hilfestellungen brauchen, ging aber offensichtlich davon aus, dass »Autismus« im Erwachsenenalter kein medizinisch relevantes Thema ist. Anders gesagt: Er hat seine früheren Bemühungen um Erforschung einer »autistischen Psychopathie«, das heißt: einer spezifischen pathologischen Ausprägung »autistischer« Merkmale, im Grunde widerrufen. Mit der Rückkehr zu einem unspezifischen, trivialen Begriff von »Autismus« hat er dann nolens volens denjenigen die Vorlage geboten, die unter Autismus nicht eine interventionsbedürftige Entwicklungsstörung verstehen, sondern ein identitätspolitische Aufwertung erheischendes »Anderssein«.

Leo Kanner hingegen hat bereits 1965 vor einer Verwässerung und Inflationierung des Begriffs »Autismus« gewarnt:

»[…] it became a habit to dilute the original concept of infantile autism by diagnosing it in many disparate conditions which show one or another isolated symptom found as a part feature of the overall syndrome. Almost overnight, the country seemed to be populated by a multitude of autistic children.« (zit. n. Isaksen et al. 2013, S. 327)

Als Lorna Wing 1981 die Bezeichnung »Asperger-Syndrom« einführte, gab sie sich alle Mühe, bestimmte Auffassungen von Asperger zu korrigieren, die sie durch ihre Forschungen nicht bestätigt sah. Insbesondere wandte sie sich gegen Aspergers Assoziation von »Autismus« mit Originalität und Kreativität, die sie im geistigen Profil ihrer Patienten (beiderlei Geschlechts) nicht vorfand. Bei ihren Patienten überwogen die »mechanischen Gedächtnisleistungen«, von denen Asperger geringschätzig gesprochen hatte, ihre »Spezialinteressen« bestanden in der Akkumulation eines datenbankartigen Wissens ohne tiefergehendes Verständnis von Sinn und Bedeutung. Die von Asperger mit Autismus assoziierte »gute Abstraktionsfähigkeit« und »begriffliche Leistung« (s. o.) war gerade nicht vorhanden. Nach Wings Befunden geht Autismus eher mit eingeschränkten Fähigkeiten der kontextualisierenden, abstrahierenden und schlussfolgernden Interpretation von Informationen einher. Sie plädierte dafür, das »Asperger-Syndrom« nicht als Persönlichkeitsdisposition, sondern als distinkte Pathologie aufzufassen. Den Unterschied zwischen Autismus und der von Asperger als »autistisch« bezeichneten Introvertiertheit sieht sie darin, dass diese die Fähigkeit zum Lernen aus sozialer Erfahrung nicht ausschließt, die autistischen Menschen hingegen fehlt, was zu beträchtlichen Lebenserschwernissen führt. Das »Asperger-Syndrom« nach Wing ist etwas anderes als die Normvariante, die der späte Asperger im Sinn hatte. An Wings Beschreibung orientierten sich zunächst die Diagnosekriterien. Der Psychiater Matthias Dose weist in diesem Sinne darauf hin,

»[…] dass es sich auch beim Asperger-Syndrom um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung handelt, welche die Mehrzahl der Betroffenen, ihre Familien und ihre soziale Umgebung erheblich in den Möglichkeiten einer selbstständigen Lebensführung beeinträchtigt.« (Dose 2009, S. 33)

Lorna Wings Bemühungen um eine trennscharfe Eingrenzung des »Autismusspektrums« war aber kein dauerhafter Erfolg beschieden. Die Büchse der Pandora war geöffnet, Aspergers Schriften mit all ihren inneren Unstimmigkeiten und Widersprüchlichkeiten wurden begeistert gelesen. Seine vage, in viele Richtungen anschlussfähige Idee von »Autismus« befriedigte gerade in ihrer Mehrdeutigkeit die Nachfrage nach einer Diagnose von hohem Prestige, von der sich dann nicht nur Außenseiter mit schweren Lebensläufen angesprochen fühlten, sondern auch Menschen, die objektiv gar keine Außenseiter, sondern sozial recht erfolgreich sind, sich aber innerlich »anders« fühlen. Die Mittelschichts-Akademikerin Liane Willey, Hochschullehrerin und Mutter, von der niemand ernsthaft wird behaupten können, dass ihr im Leben etwas Wesentliches fehlt, erfand das Wort »Aspie« und stellte sich als »Autistin« dar, die nach außen »normal« erscheint, da sie ihren Autismus erfolgreich »maskieren« könne. Autismus, vormals definiert als Entwicklungsstörung, die soziales Anpassungsvermögen erheblich einschränkt mit der Folge, dass die Betroffenen beruflich wie privat normale Lebensziele meistens nicht erreichen, wurde nunmehr zum inneren »Anderssein«, das – entgegen Wings Kriterien – durch soziales Lernen nach außen »kompensiert« werden kann, aber in unserem Zeitalter des Kultivierens von Be- und Empfindlichkeiten Aufmerksamkeit und Anerkennung beansprucht. Derweil beschrieb Tony Attwood, Autor populärwissenschaftlicher Ratgeberliteratur, den »Aspie« als loyalen, zuverlässigen, ehrlichen Menschen mit außergewöhnlichem Gedächtnis und enzyklopädischem Wissen, der beharrlich denkt, Wert auf Ordnung und Genauigkeit legt und dadurch qualitative Vorteile gegenüber den »Neurotypischen« hat (Attwood/Gray 1999). – Im Abstract der Autobiografie einer »Literaturwissenschaftlerin und Asperger-Autistin« heißt es:

»Der Autismus ist mitten unter uns – er wird nur oft nicht erkannt. Oder wer denkt an Autismus, wenn eine Frau Doktor jeden Tag das Gleiche isst und lieber in Textwelten abtaucht als auf Grillpartys geht?« (Verlagsinformation zu Mecky Zaragoza 2012, zit. n. Katalog der Universitätsbibliothek Heidelberg)

Besser kann man es tatsächlich nicht auf den Punkt bringen: Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert wurde aus Eigenschaften und Verhaltensmerkmalen, die man zuvor für Charakterschrullen und Exzentrik hielt (womit erfolgreiche Akademiker immer ganz gut leben konnten), plötzlich »Autismus«. Als typische und repräsentative »Autisten« galten in manchen Milieus auf einmal nicht mehr Menschen, die ein randständiges, meist unselbstständiges, beruflich wie privat erfolgloses, einsames und unerfülltes Leben führen, weil ihnen elementare soziale Anpassungsfähigkeiten (kontextgerechtes Verhalten, Kooperation, Aufbau von Beziehungen) fehlen, sondern unerkannt »mitten unter uns« verkehrende, sozial etablierte Mittelschichtsmenschen, die sich »anders« fühlen und darunter leiden, ihr gefühltes »Anderssein« vor einer »intoleranten« Umgebung verbergen und »maskieren« zu müssen. Natürlich ist diese Entwicklung in einem zeitgeschichtlichen Kontext zu sehen: Es handelt sich um einen Ausfluss der Campuskulturen der Postmoderne, die das zentrale Problem unserer sozialen Wirklichkeit nicht mehr in Eigentumsverhältnissen und materiellen Hierarchien sehen, sondern in einer »diskriminierenden«, die »Vielfalt« unterdrückenden »Dominanzkultur« der Mehrheitsgesellschaft. In dieser ideologischen Gemengelage wird »Autismus« zum Opfernarrativ für Privilegierte.

Die Welle war nicht mehr aufzuhalten. Der »Aspie« wurde zum populärkulturellen Archetyp, »Autismus« zur Projektionsfläche für alle, die in einer Zeit der allgemeinen Flexibilisierung und Dynamisierung sozialer Beziehungen nicht ganz mitkamen: Normabweichung und Distinktionsmerkmal, das in bestimmten Kontexten als kulturelles Kapital verwertbar ist. In den neuen Digitalmedien wird diese Ideenwelt heute von zahlreichen Autismus-Influencern propagiert, die bei vielen labilen Jugendlichen Begehrlichkeiten nach einer Autismus-Diagnose wecken. Wie bei allen Minderheitenthemen treten auch im Bereich Autismus neuerdings militante Aktivisten auf den Plan, die für sich die alleinige Deutungshoheit über den Begriff »Autismus« in Anspruch nehmen, indem sie diesen in eine selbstbestimmte »Identität« umdefinieren, über die keine »Neurotypischen« zu befinden hätten. Häufig wird in diesen Milieus Autismus mit Homosexualität verglichen: einer von der Mehrheit abweichenden Veranlagung, die entpathologisiert und enttabuisiert werden müsse. Was dabei übersehen wird: Zwischen der sexuellen Orientierung eines Menschen und seinem allgemeinen sozialen Funktionsniveau besteht kein Zusammenhang. Autismus hingegen umfasst Eigenschaften, die in vielen Fällen normale soziale Teilhabe erheblich erschweren. Natürlich kommt hier ein komplexes Zusammenspiel gesellschaftlicher Faktoren zum Tragen: Beispielsweise hat in den letzten Jahrzehnten die rapide voranschreitende Automatisierung in der Arbeitswelt viele Routinetätigkeiten, die für manche autistische Menschen geeignet wären, wegrationalisiert. Hier muss der Sozialstaat Nachteilsausgleiche gewähren. Der Sozialstaat aber wird nicht von Aktivistenmilieus, sondern von der Allgemeinheit getragen: Er muss die Kriterien seines Handelns vor der Allgemeinheit vernünftig ausweisen und rechtfertigen können. Über medizinische Diagnosen, die Ansprüche auf Unterstützung und Nachteilsausgleich begründen, haben deshalb nicht Aktivistenmilieus zu bestimmen. Und hier geht es eben nicht um die Frau Doktor, die jeden Tag das Gleiche isst und nicht gerne auf Grillpartys geht.

Heute wie damals geht es darum, Menschen, die einer bestimmten sozialen Norm nicht genügen, diagnostisch zu katalogisieren.

Asperger hat im Dritten Reich eine Pathologie beschrieben mit dem Ziel, Menschen, die in ihrem Verhalten als wenig gemeinschaftsfähig erscheinen, als dank ihrer geistigen Fähigkeiten für die Gesellschaft wertvoll auszuweisen. Nach 1945 hat das zunächst niemanden interessiert – nicht einmal ihn selbst, er hat sich damit nicht mehr beschäftigt und sich an den durch Kanner angestoßenen Forschungen über Autismus nicht beteiligt. Edith Sheffer geht der Frage nach, wieso gegen Ende des 20. Jahrhunderts Asperger plötzlich wieder interessant wurde:

»Wie kam es, dass eine Diagnose, die in den vierziger Jahren als Kind des nationalsozialistischen Ideals von Konformität und sozialem Geist geboren worden war, am Ende des 20. Jahrhunderts von einer individualistischen Gesellschaft adoptiert wurde? Wenn wir die medizinischen Faktoren beiseitelassen, die möglicherweise zum Aufstieg der Diagnose Autismus beitrugen […], so gewinnen wir den Eindruck, dass die neunziger Jahre ein eigenes Diagnoseregime hervorbrachten, in dem eine immer genauere Beobachtung des kindlichen Verhaltens eine wachsende Zahl von Etiketten für Defekte hervorbrachte. Die Anforderungen an die elterliche und medizinische Betreuung und an die verhaltenspsychologische Begleitung in den Schulen stiegen, und es wurden strengere Maßstäbe für die kindliche Entwicklung festgelegt. Viele Kinder erreichten die vorgegebenen Etappenziele nicht, und auf der Suche nach Erklärungen wurden immer neue psychiatrische Diagnosen entwickelt – zu den wichtigsten zählt das Aufmerksamkeitsdefizit-/​Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) und das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) –, was zur Folge hatte, dass eine Generation von Kindern mit Ritalin und anderen psychiatrischen Medikamenten aufwuchs. Ein weiteres Symptom des Vormarschs der Kinderpsychiatrie ist die Vorstellung von einem ›Autismus-Spektrum‹, in dem sogar für geringfügige Beschränkungen der Leistungsfähigkeit Platz ist.« (Sheffer 2018, S. 283)

Was Asperger unter dem Diagnoseregime des Nationalsozialismus entwickelt hatte, hat das neue Diagnoseregime des Neoliberalismus und Postfordismus aufgegriffen. Heute wie damals geht es darum, Menschen, die einer bestimmten sozialen Norm nicht genügen, diagnostisch zu katalogisieren. Elon Musk ist dann nicht einfach ein ebenso begabter wie brutaler Egozentriker, sondern er hat »Asperger« und ist »neurodivergent«. Asperger wollte zeigen, dass Menschen, die mit ihrer sozial distanten Individuiertheit auf den ersten Blick nicht in die »Volksgemeinschaft« passen, für diese dennoch nützlich sein können, heute taxieren Diagnosen ihre Markttauglichkeit, »Neurodivergenz« wird inzwischen als Ressource nutzbar gemacht. Auch heute stehen im Fokus der inzwischen ständig in den Medien präsenten Autismus-Erzählung, ganz wie bei Asperger im Dritten Reich, die Begabten, Originellen und Kreativen – zuungunsten derjenigen, die Asperger »automatenhafte Schwachsinnige« nannte. Dass Wirtschaftsverbände, die von Mindestlohn und Kündigungsschutz nicht viel halten, sich für »Neurodiversität« einsetzen, sollte zu denken geben.

Autismusspektrum: ein arbiträres Konstrukt

Die Diagnose »Asperger-Syndrom« wurde 1992 in die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation und 1994 ins DSM-IV der American Psychiatric Association aufgenommen. Sie war von Anbeginn umstritten. Keine Einigkeit bestand darüber, ob das Asperger-Syndrom als verwandte, aber eigenständige »tiefgreifende Entwicklungsstörung« vom Kannerschen Autismus zu unterscheiden ist oder bloß dessen »hochfunktionale« Variante. Autismus-Experten wie Eric Schopler argumentierten, dass alle diagnostisch relevanten Fälle durch high functioning autism abgedeckt seien. In den USA und Kanada wurde die Diagnose Asperger’s syndrome tatsächlich nur sehr selten gestellt. Die Statistiken zu den Fallzahlen bei Kindern und Jugendlichen um 2000 weisen in den allermeisten Fällen mit milden, atypischen autistischen Zügen die DSM-IV-Diagnose PDD-NOS (pervasive developmental disorder, not otherwise specified) für unspezifische tiefgreifende Entwicklungsstörungen aus, für die es keine klaren Kriterien gab. Mit Sicherheit hatten die meisten derjenigen, die sich »Aspies« nannten, die Diagnose PDD-NOS.

Die Diagnose lässt Ermessensspielräume offen.

Nach zwanzig Jahren hat das DSM-5 von 2013 die Diagnose »Asperger-Syndrom« wieder gestrichen. An ihre Stelle trat die einheitliche »Autismusspektrum-Störung«, charakterisiert durch Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion und Kommunikation und eingeschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, die nach Schweregraden zu spezifizieren ist. Auch in der 2022 erschienenen ICD-11 gibt es kein »Asperger-Syndrom« mehr. Die neue Manteldiagnose »Autismusspektrum-Störung« wird mit zahlreichen Subtypen mit oder ohne sprachliche und intellektuelle Beeinträchtigung ausdifferenziert – womit ernste Probleme autistischer Menschen quasi in Komorbiditäten ausgelagert werden, während der »Autismus« an sich zu einer relativ weit gefassten Begriffshülse wird:

»Autism spectrum disorder is characterised by persistent deficits in the ability to initiate and to sustain reciprocal social interaction and social communication, and by a range of restricted, repetitive, and inflexible patterns of behaviour, interests or activities that are clearly atypical or excessive for the individual’s age and sociocultural context […] Deficits are sufficiently severe to cause impairment in personal, family, social, educational, occupational or other important areas of functioning and are usually a pervasive feature of the individual’s functioning observable in all settings, although they may vary according to social, educational, or other context. Individuals along the spectrum exhibit a full range of intellectual functioning and language abilities.« (ICD-11: 6A02, Stand 1/2023)

Die ICD-11 bekräftigt also zunächst die Definition von Autismus als Anpassungsstörung, die sich in für die Umgebung wahrnehmbaren, durchgängig präsenten Verhaltensmerkmalen zeigt, aus denen sich erhebliche Einschränkungen der sozialen Funktionsfähigkeit in vielen Lebensbereichen ergeben: Autismus ist (entgegen populären Erzählungen von Typ »Ich bin Autistin, aber ich zeige es nicht«) definiert als Verhaltenshabitus, der auffällt und Konsequenzen hat. Allerdings folgt dem sogleich die Relativierung (»usually« … »although«), und bei der nachfolgenden Spezifizierung der Merkmale ist die ICD-11 auffällig vage und »weich«, anstelle von Pflichtkriterien stehen Formulierungen wie »manifestations may include« und Beschreibungen, die weitläufig interpretierbar sind. Schließlich heißt es dann:

»Some individuals with Autism Spectrum Disorder are able to function adequately in many contexts through exceptional effort, such that their deficits may not be apparent to others. A diagnosis of Autism Spectrum Disorder is still appropriate in such cases.« (Ebd.)

Hier wird auf die häufig mit Stichworten wie »Kompensation« und »Maskieren« beschriebene Möglichkeit einer notdürftigen Anpassung nach außen Bezug genommen. Aber: Zweifellos bedeutet »some individuals«, dass es hier um Einzel- und Sonderfälle geht, um Ausnahmen, nicht um die Regel. Wir hören heute jedoch ständig Autismus-Erzählungen, die suggerieren, dass »Kompensieren« und »Maskieren« der Regelfall sei. Diese Erzählungen verursachen die wachsende Nachfrage nach Autismusspektrum-Diagnosen seitens Personen, in deren Lebensführung autismusspezifische Einschränkungen nicht erkennbar sind. Wäre das der Regelfall, dann hätte das schwerwiegende Konsequenzen für das Konzept »Autismus«: Eine Anpassungsstörung, die in der Mehrzahl der Fälle gute Anpassung ermöglicht, wäre ein hölzernes Eisen. »Autismus« würde damit in etwas umdefiniert, was mit der klassischen Kernproblematik, wie sie von Kanner bis Wing beschrieben wurde, nichts mehr zu tun hat.

Bereits 2009, noch vor der offiziellen Einführung der Diagnose »Autismusspektrum-Störung«, hat der Autismusforscher Sven Bölte deren Problematik gut umrissen:

»Obgleich der Phänotyp der ASS [Autismusspektrum-Störung] in der ICD-10 und dem DSM-IV-TR gut charakterisiert ist, lassen die Definitionen ein weites Feld an Manifestationsformen zu, so dass es nach heutiger Auffassung eine typische oder klassische Erscheinungsform eigentlich nicht (mehr) gibt. Bei sehr schwachen und grenzwertigen Fällen kann die Differenzialdiagnose zur Norm und zu anderen Störungen arbiträr sein. Da für die Diagnose einer psychischen Störung schlechte Anpassung, Leidensdruck bzw. Einschränkungen der Funktionstüchtigkeit im Alltag erforderlich sind, kann es durchaus vorkommen, dass Personen die spezifischen Kriterien für eine ASS erfüllen, aber angesichts genügender Anpassung nicht die allgemeinen verpflichtenden Kriterien für eine psychische Erkrankung erfüllen. Nicht wenige Personen mit ASS auf hohem Funktionsniveau werden wegen anderen psychischen Problemen erstmals vorstellig (z. B. Depressionen).« (Bölte 2009, S. 39)

Das bedeutet, in einfache Worte gefasst: Erstens kann eine Autismusspektrum-Störung auch dann diagnostiziert werden, wenn objektiv gar keine Störung erkennbar ist, also eigentlich gar nichts diagnostiziert werden müsste – weil ihre Merkmale so beschrieben sind, dass sie auch als bloßer Persönlichkeitszug ohne Krankheitswert auftreten können. Zweitens räumt Bölte ein, dass die Abgrenzung des Spektrums sowohl zum Normbereich als auch zu anderen Störungen (häufig wird in diesem Zusammenhang ADHS genannt, auch verschiedene Persönlichkeitsstörungen kommen in Betracht) letztlich »arbiträr«, das heißt: willkürlich ist. Die »sehr schwachen und grenzwertigen« Fälle, von denen Bölte spricht, stellen in der Diagnostik inzwischen wohl den Löwenanteil. Und obwohl es seit langem ein gut erprobtes diagnostisches Instrumentarium gibt, zeigt unsere Erfahrung, dass es doch immer wieder Fälle gibt, wo verschiedene Diagnostiker gleicher Qualifikation zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen. Die Diagnose lässt Ermessensspielräume offen.

Ein »Spektrum«, das – auch wenn man davon heute kaum noch spricht – von schwerstbehinderten, hochgradig kontaktgestörten und kommunikationsunfähigen Menschen bis zu erfolgreichen Akademikerinnen oder Unternehmern reicht, ist nach Kriterien des common sense wenig plausibel, weil die Unterschiede innerhalb dieses Spektrums viel größer sind als zwischen seinem milden Randbereich und der Norm. Haben wir es mit einem Kontinuum von Charakterzügen zu tun, oder gibt es doch einen qualitativen Sprung, der Autismus von Nicht-Autismus unterscheidet? Bölte gibt selbst zu, dass er diesbezüglich seine Meinung zwanzig bis dreißig Mal geändert hat, weil der Sachverhalt vielschichtig ist. Inge Kamp-Becker, eine andere profilierte Forscherin, spricht von einem »Ausfransen« des Spektrums: Es gibt Befunde, die für ein Kontinuum autistischer Züge sprechen – aber »was genau dann Autismus ist, das wird immer unklarer« (»Autismus – Krankheit oder Charakterzug?« Beitrag der Deutschen Welle vom 2. 4. 2019). Bei Asperger war das allerdings von Anfang an so. Die Tendenz, Charakterzüge einem Diagnoseregime zu unterwerfen und damit Normalität zu pathologisieren, führt – Kamp-Becker weist öfters auf diesen Aspekt hin – im Gegenzug zu einer Normalisierung der Pathologie – mit der Folge, dass autistische Menschen mit ernsten Beeinträchtigungen und hohem Unterstützungsbedarf keine Beachtung mehr finden. Menschen wie der im Juni 2023 verstorbene Donald Triplett, ab 1938 Kanners erster Autismus-Patient, werden auf diese Weise im Autismusspektrum an den Rand gedrängt.

[ Don Triplett ]
Don Triplett (1933–2023) war der erste Patient, dem Leo Kanner Autismus diagnostizierte. Wenn heute von Autismus die Rede ist, spricht man kaum noch über Menschen wie ihn. (Bild: Wikimedia / Yuval Levental)

Eine identitäre Abgrenzung von »Autisten« zu »Neurotypischen« lässt sich mit dem Konzept eines weit gefassten dimensionalen Spektrums jedenfalls logisch nicht rechtfertigen.

Dabei wissen wir auch nach Jahrzehnten intensiver Forschung über die Ätiologie von Autismus nichts Genaues – was bei einem derart breit gestreuten und variablen Phänotyp auch kein Wunder ist. Die Ursache sind nicht die »Kühlschrankmütter«, die zeitweilig Leo Kanner und dann vor allem Bruno Bettelheim unter Verdacht stellte, und es sind keine Schutzimpfungen gegen Kinderkrankheiten. In der Forschung koexistieren vielerlei Arbeitshypothesen, von verminderter Aktivität der Amygdala oder der Spiegelneuronen über schwache Zentralkohärenz der Informationsverarbeitung bis hin zum extreme male brain mit starken Systematik- und schwachen Empathiefunktionen (womit Simon Baron-Cohen direkt an Asperger anknüpft). Keine vermochte bislang den Zusammenhang von eingeschränkter sozialer Interaktion und stereotypen Verhaltensmustern zu erklären. Eine weit verbreitete, oft auch in Erzählungen von Betroffenen vorgetragene Annahme besagt, dass bei autistischen Menschen Schwächen in der »schnellen«, spontan-intuitiven Informationsverarbeitung durch Stärken der »langsamen«, deliberativ-reflexiven kompensiert würden. Eine umfangreiche, qualitativ hochwertige Studie konnte dafür aber keinen Beleg erbringen: Zwischen autistischen Probanden und der »neurotypischen« Kontrollgruppe konnte diesbezüglich kein signifikanter Unterschied festgestellt werden (Taylor et al. 2022).

Psychiatrische Diagnosen haben historische Konjunkturen in kulturellen Kontexten. Um die Wende vom 19. und 20. Jahrhundert war ein Lieblingsthema der Psychiatrie die weibliche »Hysterie« – Edith Sheffer weist auf diesen Sachverhalt hin (Sheffer 2018, S. 285). Die Forschungen zur Hysterie von Freud und Breuer trugen wesentlich zur Grundlegung der Psychoanalyse bei. Es war die Zeit, in der Frauen begannen, eine Rolle in der Öffentlichkeit zu spielen, wobei von ihnen die Anpassung an die Normen der männlichen Öffentlichkeit erwartet wurde. Frauen, die dieser Norm nicht genügten und irgendwie zu emotional erschienen, bekamen eine Diagnose. Unter der Sammelbezeichnung »Hysterie« wurde eine Vielzahl von Symptomen erfasst. Nach einigen Jahrzehnten verlor die Diagnose aber an Bedeutung, 1952 wurde sie gestrichen. Zum einen entfielen die Gründe, die zu einer massenhaften Pathologisierung von Frauen führten, zum anderen konnten die unter dem Sammelnamen »Hysterie« erfassten krankheitswertigen Phänomene mit anderen, präziseren Diagnosen besser beschrieben und behandelt werden. Gleiches gilt für das um 1900 weit verbreitete Krankheitsbild der »Neurasthenie«: Die Beliebtheit dieser Diagnose beruhte darauf, dass sie psychischen Problemen, die einer sich rapide modernisierenden Gesellschaft entsprangen, eine organische Ursache zuschrieb und sie damit sozial akzeptabel machte. Auch diese Diagnose verschwand nach 1920 (zumindest in der westlichen Welt – in der Sowjetunion und später in der Volksrepublik China, aber auch in Japan blieb sie aktuell). Es liegt nahe, dass es mit »Autismus« genauso geschehen wird: Die gegenwärtige Hochkonjunktur des Themas ergibt sich aus den kulturellen Umbrüchen um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. »Autismusspektrum« fungiert hier als Sammeldiagnose, deren Ätiologien vermutlich ebenso variabel sind wie der Phänotyp selbst. Es wäre nicht verwunderlich, wenn nach einigen Jahrzehnten das Forschungsprogramm »Autismus« sich totläuft und an die Stelle der Sammelbezeichnung »Autismusspektrum« andere, genauere Diagnosen treten. Im Grunde deutet sich das in der ICD-11 schon an.

Man könnte zeigen, dass »Autismus« in die erstmals von dem Philosophen Walter Bryce Gallie beschriebene Kategorie der essentially contested concepts, »notwendig umkämpften Begriffe« (Gallie 1956; vgl. Collier et al. 2006) fällt: Ebenso wie Begriffe wie »Demokratie«, »Kunst« oder »soziale Gerechtigkeit« ist der Begriff »Autismus« unterschiedlich interpretierbar, wobei die Mehrdeutigkeit nicht Resultat von ungenügendem Wissen, Falschinformationen oder Missverständnissen ist. Sondern eine Mehrdeutigkeit haftete dem Begriff von Anbeginn an, sie lässt sich von ihm nicht trennen, und deshalb wird es nie Einigkeit in seiner Verwendung geben. Diese Mehrdeutigkeit impliziert nicht notwendigerweise einen Relativismus: Ebenso wie man über ein sinnvolles Verständnis von »Demokratie« oder »Kunst« diskutieren und argumentieren kann, können auch bei »Autismus« mehr oder weniger sinnvolle Bedeutungen mit Argumenten gestützt unterschieden werden. Allerdings sind essentially contested concepts normalerweise in den Bereichen von Politik, Kultur und Gesellschaft anzutreffen. Ob in der Medizin ein notwendig umkämpfter Begriff dauerhaft haltbar ist, kann bezweifelt werden.

»Asperger« als Markenname

Das »Asperger-Syndrom« ist im Wesentlichen Geschichte. In der diagnostischen Nomenklatur hat in der momentanen Übergangsphase die ICD-10 noch Gültigkeit, aber sie wird in absehbarer Zeit von der ICD-11 abgelöst: Dann gibt es kein Asperger-Syndrom mehr. Und doch wirft Asperger einen langen Schatten in unsere Gegenwart. Aspergers wissenschaftliche Leistung ist in mehrfacher Hinsicht fragwürdig: Er hat etwas skizziert und nicht weitergeführt, und seine Ideen sind in sich widersprüchlich und mehrdeutig. Aber gerade auf Aspergers Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit beruht die Popularität, die das Konzept »Autismus« zu Beginn des 21. Jahrhunderts erlangt hat. Auch wenn Aspergers Name in keinem aktuellen Diagnosehandbuch mehr auftaucht, schreibt die heutige Autismus-Erzählung Asperger fort. Die heutige Auffassung von »Autismus« gäbe es sicher nicht ohne ihn. Asperger ist zweifellos aus mehreren Gründen keine Identifikationsfigur. Es hätte aber wenig Sinn, Aspergers Namen mit Blick auf seine Nazivergangenheit im Sinne einer cancel culture zu tilgen: Viel sinnvoller wäre es, darüber nachzudenken, warum sein im Dritten Reich entwickeltes Konzept von »Autismus« mit seiner elitären und meritokratischen Komponente heute so großen Anklang findet. Das könnte immerhin zu kritischer Einsicht in den Zeitgeist der Gegenwart beitragen.

»Asperger« hat sich als eine Art Markenname etablieren können. Unser Asperger-Stammtisch heißt so, weil zum Zeitpunkt seiner Gründung die meisten Beteiligten die Diagnose »Asperger-Syndrom« hatten. Während das Asperger-Syndrom verschwindet, heißen wir weiterhin so, weil es keine andere Bezeichnung gibt, die kurz und mit hohem Wiedererkennungswert unsere Zielgruppe beschreibt. Dass der Name Asperger in Misskredit geraten ist, hat die fatale Folge, dass Menschen, die man vor einigen Jahren noch als »Asperger-Autisten« kannte, sich selbst inzwischen häufig nur noch »Autisten« nennen und damit eine Bezeichnung usurpieren, die eigentlich für einen anderen, viel stärker benachteiligten Personenkreis eingeführt worden ist. Wir heißen nicht »Autismus(spektrum)-Stammtisch«, weil – auch wenn es heute gerne verdrängt wird – zum Autismusspektrum Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen gehören, die bei uns nicht teilnehmen könnten. Unsere Gruppe spricht den »hochfunktionalen« Teil des Autismusspektrums an, der selbstständig an Treffen im öffentlichen Raum teilnehmen kann und dies aus eigener Motivation möchte; wollten wir uns allerdings »HFA-Stammtisch« nennen, so würde niemand verstehen, was gemeint ist. Unser Teilnehmerkreis ist so heterogen, wie das mehrdeutige Konzept, das mit der Bezeichnung »Asperger-Syndrom« verbunden war und heute das »Autismusspektrum« konstituiert, es erwarten lässt. Wir wenden uns als an zumindest relativ selbstständig lebende Erwachsene aus dem Autismusspektrum in all seiner Mannigfaltigkeit. Dabei wissen wir, dass dieses Spektrum selbst ein recht fragiles Konstrukt ist: Zum Wichtigsten, was autistische Menschen lernen müssen, gehört, dass es die von ihnen oft gewünschte Eindeutigkeit in vielen Fragen nicht gibt. Unsere Lebenslagen sind sehr unterschiedlich. Willkommen sind alle, die das respektieren. Elon Musk würden wir nicht einladen.

Literatur